Link zu Laura Leander Mysteria Die Drachenbande - Peter & Florian Freund
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Leseprobe:
Der Tanz der Gespenster

 

DAS GRAUEN IN DER NACHT

Die Stimme von Jan Berger hallte weithin hörbar über das Übungsgelände. „Und jetzt alle her zu mir und dann - sitz!“, rief er den vier Hunden zu, die über den Trainings-Parcours hetzten.

Die Tiere gehorchten aufs Wort, hielten auf das letzte Hindernis zu und setzten mit eleganten Sprüngen spielend leicht darüber hinweg: Zuerst Tarzan, Jans kräftiger Border-Collie, dann Diva, die elegante Golden-Retriever-Dame von Marie Mertens, dicht gefolgt von Potter, dem wuseligen Jack-Russel-Terrier von Jans kleiner Schwester Julia. Nur der gemütliche Zweistein, ein stattlicher Bobtail mit wuscheligem Fell, ließ es eher gemächlich angehen. Er lief den anderen Hunden mit einigem Abstand hinterher und beendete die Übungsstunde wie gewohnt als Letzter. Laut hechelnd nahm er neben Tarzan, Diva und Potter Platz und wartete auf das übliche Leckerli - ein Stück Hundekuchen in Form eines Knochens -, das Jan den vierbeinigen Helfern der Drachen-Bande nach dem Training immer zur Belohnung zusteckte.

Zweistein schlang seinen Keks in Nullkommanichts hinunter. Dann legte er den Kopf schief und sah Jan aus seinen großen Hunde-Augen an. Dazu winselte er zum Steinerweichen – offensichtlich wollte er mehr!

Jan - der sportlich-schlanke Junge mit den dunklen Wuschelhaaren war ungewöhnlich groß für seine zwölf Jahre – verzog das Gesicht. „Meine Güte, Zweistein! Du bist ja fast schon genauso verfressen wie dein Herrchen.“

Der Bobtail schüttelte sich und ließ ein lautes Bellen hören.

„Wie jetzt?“ Jan sah den Rüden fragend an. „Heißt das ja oder nein?“

„Weder das eine noch das andere“, ließ Albert Stein sich da vernehmen. Der füllige Junge hockte rund vier Meter über Jan auf der Bretterveranda eines geräumigen Baumhauses. Das Baumhaus war Treffpunkt und Geheimversteck der vier verschworenen Freunde Jan, Albert, Marie und Julia, und sie hatten es vor Monaten im Wipfel der großen Kastanie am Rande des Übungsgeländes errichtet. Ein mächtiger Drache, von Marie kunstvoll auf die vorderen Außenwände gezeichnet, hatte ihrem Refugium dann auch gleich den passenden Namen verliehen: „Drachen-Nest“.

„Was meint Zweistein denn dann?“ Jan legte den Kopf schief, um zu seinem Freund hochzusehen, dessen feuerroter Haarschopf inmitten der herbstfarbenen Kastanienblätter hervorleuchtete. Albert hatte sich in eine Tageszeitung vertieft und ließ seine stämmigen Beine über den Rand seines Sitzplatzes baumeln. „Verzeih mir die Frage, Einstein, aber ich bin nun mal keine solche Geistesgröße wie du und verstehe deshalb nicht, was dein Hund mir sagen will.“

Albert, der aufgrund seiner überragenden Intelligenz meistens nur Einstein genannt wurde und seinen Spitznamen auch völlig angemessen fand, legte die Zeitung zur Seite und grinste Jan von oben herab an. „Dabei ist das doch gar nicht so schwer: Zweistein wollte dir nur zu verstehen geben, dass er sich von dir gekränkt fühlt. Weil von ‚verfressen' natürlich überhaupt keine Rede sein kann – weder bei ihm noch bei mir.“

„Ach ja?“ Jan zog eine Grimasse. „Wie würdest du es denn nennen, wenn jemand pausenlos am Futtern ist und meistens nur doppelte Portionen verputzt?“

„Jetzt übertreibst du aber!“ Einstein feuerte ihm giftige Blicke zu. Er konnte es absolut nicht leiden, wenn man ihm seine größte Schwäche vorhielt. Dabei machte seine füllige Figur die mehr als deutlich. „Zweistein und ich sind eben Gourmets und wissen kulinarische Köstlichkeiten angemessen zu schätzen.“

„Was du nicht sagst, Einstein“, mischte Marie Mertens sich ein. Das Mädchen mit dem blonden Pferdeschwanz füllte gerade die Fressnäpfe der Hunde mit Doggie Royal , dem Lieblingsfutter ihrer verwöhnten Hündin. „Seit wann sind Hamburger denn kulinarische Köstlichkeiten? Ganz abgesehen davon, dass sie auch noch ziemlich ungesund sind.“

„Eine Vegetarierin wie du kann das doch gar nicht beurteilen“, erwiderte Einstein mit säuerlicher Miene. „Außerdem war nicht von Hamburgern die Rede, sondern von den Leckerlis, die Jans Opa für unsere Hunde backt – und die sind mit Sicherheit genauso wohlschmeckend wie gesund.“ Mit zusammengekniffenen Augen blickte er Marie an. „Oder willst du etwa behaupten, dass Herr Richter unseren Lieblingen minderwertiges Futter vorsetzt?“

Marie rümpfte die Nase. „Nein, natürlich nicht!“

„Das wollte ich dir auch geraten haben“, ließ sich da eine kräftige Männerstimme vernehmen. Sie gehörte Ludwig Richter, dem Großvater von Jan und Julia, der eben aus der Hintertür seines Häuschens trat. Der frühere Polizeichef von Steiningen war der Besitzer des weitläufigen Gartens am Rande der Stadt, der sowohl den Trainings-Parcours der Hunde als auch die Kastanie mit dem Hauptquartier der Drachen-Bande beherbergte. Auch das Backsteinhäuschen von Opa Ludwig mit den von Efeu überwucherten Mauern stand auf diesem großen Gelände. Seit dem allzu frühen Krebstod seiner Frau bewohnte Ludwig Richter sein Haus ganz alleine. Er war aber noch überaus rüstig und unternehmungslustig und unterstützte die Drachen-Bande und ihre vierbeinigen Freunde tagtäglich nach besten Kräften.

Das Geschirrtuch, das Opa Ludwig sich beim Kochen oder Backen stets in den Gürtel steckte, verriet, dass er gerade aus der Küche kam. Mit federnden Schritten stieg er die Treppe zum Garten hinunter und ging mit freundlichem Lächeln auf Jan und Marie zu. „Greift bitte zu!“ Damit hielt er ihnen einen Teller mit frisch gebackenen Heidelbeer-Törtchen entgegen, von denen ein ebenso köstlicher wie verlockender Duft aufstieg. „Zur Feier der Herbstferien. Und außerdem: Warum soll es euch schlechter gehen als euren Hunden?“

Einstein hatte sich bereits bei Opa Ludwigs ersten Worten aufgerappelt und hangelte sich nun mit einer Geschicklichkeit die Baumhaus-Strickleiter hinunter, die man ihm nie zugetraut hätte. Seine Augen glänzten vor Vorfreude. Der bloße Anblick der leckeren Törtchen hatte ihn offensichtlich vergessen lassen, dass er für gewöhnlich nur den Baumhaus-Aufzug benutzte, den er selbst in einer komplizierten Seilkonstruktion und mit dem Motor eines ausrangierten Rasenmähers gebastelt hatte. Normalerweise hielt Einstein jede körperliche Anstrengung für überflüssig und versuchte sie deshalb weitgehend zu vermeiden – es sei denn, es winkte etwas Leckeres zum Futtern.

Nach nicht einmal zwei Minuten war der Teller ratzekahl leer. Während Jan und Marie sich mit jeweils zwei Gebäckstücken begnügt hatten, hatte Einstein gleich ein halbes Dutzend verputzt.

„Wöstlich, weinwach wöstlich!“, lobte er Opa Richter mit vollem Mund und schluckte dann hastig die letzten Bissen hinunter.

„Danke für das Kompliment, Albert.“ Sanft lächelnd deutete Ludwig Richter eine leichte Verbeugung an. „Es ist mir immer wieder eine große Freude, zu sehen, wie gut es dir schmeckt. Wenn du möchtest, schreibe ich dir das Rezept auf. Dann kann deine Mutter dir die Törtchen auch backen.“

„Lieber nicht“, entgegnete Albert so hastig, dass er sich beinahe verschluckte. „Martina nimmt doch immer nur Vollkornmehl und unraffinierten Zucker und lauter so gesundes Zeug. Aber damit schmecken die Kuchen nur halb so gut wie bei Ihnen, Herr Richter.“

„Da irrst du dich aber ganz gewaltig, Albert“, widersprach Opa Ludwig. „Auch ich nehme nur Vollkornmehl, Rohrzucker und Honig – und es schmeckt trotzdem, wie du eben selbst festgestellt hast.“

„Echt?“ Einstein staunte ihn mit großen Augen an und wischte sich dann mit dem Handrücken ein paar Krümel von den Lippen. „Dann können Sie einfach viel besser kochen und backen als meine Mutter.“ Damit wandte er sich an seinen Bobtail und schaute ihn fragend an. „Habe ich nicht Recht, Zweistein?“

Der zottelige Hund, der sich genau wie seine vierbeinigen Freunde an seinem Fressnapf gütlich tat, hob den Kopf und ließ ein lautes Bellen erschallen – was offensichtlich „ja“ bedeuten sollte.

„Vielen Dank für das Lob, mein Guter!“ Ludwig Richter tätschelte den Bobtail am Hals und schaute seinen Enkel dann fragend an. „Wo ist eigentlich deine Schwester?“

„Bei Heike, einer Klassenkameradin“, antwortete Jan. „Die fährt mit ihren Eltern für eine Woche in den Urlaub und Julia nimmt solange ihre Katze in Pflege. Sie holt sie gerade mit Mama ab.“

„Oh, oh!“, ließ Einstein sich da vernehmen. „Hoffentlich geht das gut!“

Jan runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“

„Warte es einfach ab“, antwortete Einstein mit vieldeutiger Miene. „Dann wirst du schon sehen.“

Während Jan noch über Einsteins rätselhafte Antwort nachdachte, ergriff sein Opa wieder das Wort. „Und was ist mit euch? Was habt ihr für die Herbstferien geplant?“

„Och, nichts Besonderes“, antwortete Jan. „Wir ruhen uns einfach nur ein bisschen aus und machen vielleicht einen Ausflug zum Drachenstein und besichtigen die Tropfsteinhöhle - weiter nichts.“

„Moment mal, Jan“, mischte Marie sich an. „Du hast die Demo gegen das Tierversuchs-Labor vergessen, morgen Vormittag im Stillen Forst.“

„Ja klar, natürlich“, antwortete Jan rasch. „Das ist doch Ehrensache.“ Er wandte sich an Albert. „Oder nicht?“

„Selbstverständlich!“ Einstein nickte. „Marie und ihre Freunde vom Tierschutzverein haben sich doch so viel Mühe gegeben, die Aktion zu organisieren.“ Dann aber verzog er missmutig das Gesicht. „Eigentlich hatte ich ja gehofft, dass wir uns in den Ferien wieder mit einem kniffeligen Fall beschäftigen können. Wie im Sommer zum Beispiel, als der geheimnisvolle schwarze Ritter und das mysteriöse Monster vom Teufelssee uns auf Trab gehalten haben.“ Zum Zeichen seiner Enttäuschung hob er die Arme. „Aber es ist wie verhext! In Rock City passiert einfach nichts Aufregendes mehr! Ich fürchte, die Herbstferien werden so richtig öde und stinke langweilig.“

„Das würde mich wundern, Einstein“, widersprach Opa Ludwig. „Wie ich euch Drachen-Bande kenne, wisst ihr euch mit Sicherheit zu beschäftigen. Außerdem ...“ Er blickte die drei Freunde eindringlich an. „Als ich noch im aktiven Dienst bei der Kripo war, hatten wir einen schönen Spruch.“

Jan musterte ihn gespannt. „Und wie hieß der?“

„Die aufregendsten Geschichten passieren meistens dann, wenn man überhaupt nicht damit rechnet. Eine alte Kriminalistenweisheit, die auch heute noch gilt.“

 

Der gelbe Lichtkegel der Fahrradlampe stocherte wie ein Suchscheinwerfer durch den immer dichter werdenden Nebel, der den alten Waldweg verhüllte und fast alle Geräusche verschluckte. Ernie Müller hörte nur noch das metallische Scheppern seines Mountainbikes, auf dem er über die unbefestigte und von tiefen Schlaglöchern und Spurrillen übersäte Straße holperte. Sari Jahmal, sein bester Kumpel, folgte ihm in einigem Abstand, wie am leisen Geklapper seines Rades zu erkennen war. Mit einem Mal hallte ein merkwürdiger Laut an Ernies Ohr: dumpf und schaurig und irgendwie Furcht erregend. Der Ruf einer Eule vielleicht? Oder war es ein anderes Wesen, das seinen unheimlichen Jagdschrei durch die Nacht schallen ließ?

Ernie bremste und brachte sein Bike zum Stehen. Ein eisiger Schauer lief über seinen Rücken, während er mit bangem Blick auf die nebligen Schlieren starrte, die zwischen den dicken Baumstämmen hervorquollen. Wie riesige weiße Krallenfinger drifteten sie im fahlen Licht des Mondes über den unbefestigten Fahrweg, der quer durch den Dämmerwald führte. Das ebenso dichte wie unheimliche Waldstück lag im Nordenosten von Steiningen und reichte bis an die Stadtgrenze heran. Ernie schluckte und musste unwillkürlich an die alte Schauergeschichte denken, die Tim Träger erst vor einer knappen Stunde erzählt hatte.

Tim war der Torwart der Jugendmannschaft des FC Steiningen, in der auch Ernie und Sari spielten, und wurde deshalb nur Keeper genannt. Die älteren Spieler - die meisten waren schon sechzehn oder siebzehn Jahre alt - hatten ihre Zelte am Waldrand von Nordhausen, der Nachbargemeinde von Steiningen, aufgeschlagen, um während der Ferienwoche dort zu campieren. Da die „alten Hasen“ lieber unter sich bleiben wollten, wurden Ernie und Sari - mit ihren vierzehn Jahren waren sie die mit Abstand Jüngsten im Team – lediglich zu einem „gemütlichen Abend“ am Lagerfeuer eingeladen.

Ernie war das nur recht. Er hätte sonst die wöchentliche Probe seiner Band verpasst. Und da er das Bassspielen bei „DragonzCry“ genauso liebte wie das Kicken beim FC Steiningen, hatte ihm das einmalige Treffen mit seinen Fußballkumpels allemal gereicht.

Der Abend wurde in der Tat sehr lustig. Die Stimmung stieg mit jeder geleerten Bierpulle, und als dann auch noch ein paar Joints die Runde machten, kannte das Gekicher und Gelächter keine Grenzen mehr. Im Gegensatz zu den anderen begnügte Ernie sich mit einer Flasche und einem kurzen Zug. Alkohol und Gras waren nicht so sein Ding – und dennoch amüsierte er sich ganz prächtig.

Dann begann Tim zu erzählen: Der Dämmerwald sei ein verwunschener Forst, in dem es immer noch spuke, behauptete der Keeper und blickte seine Mannschaftskameraden mit beschwörender Miene an. Von Zeit zu Zeit werde er von Gespenstern oder Geistern heimgesucht – nämlich immer am Freitag dem Dreizehnten! „Beim ersten Schlag der Mitternachtsstunde“, so berichtete Tim, „tauchen auf dem ehemaligen Hexentanzplatz in der Nähe der alten Klosterruine unheimliche Gestalten auf. In dunkle Roben gehüllt, führen sie einen ekstatischen Tanz rund um ein prasselndes Feuer auf, um dann pünktlich um ein Uhr Nachts genauso plötzlich wieder zu verschwinden, wie sie erschienen sind. Aber wehe den Unglücklichen, die ihnen in dieser Stunde über den Weg laufen! Sie werden gezwungen, bei dem höllischen Reigen mitzumachen, und anschließend auf Nimmerwiedersehen ins Jenseits verschleppt. – Das ist die reine Wahrheit, Jungs! Das könnt ihr mir glauben“, fügte der Keeper mit erhobenen Schwurfingern hinzu. „Meine Oma hat den Tanz der Gespenster nämlich mit eigenen Augen gesehen. Als kleines Mädchen ist sie ihnen im Dämmerwald rein zufällig über den Weg gelaufen und konnte nur mit knapper Not entkommen.“

„Aber natürlich, Keeper“, hatte Ernie mit breitem Lächeln kommentiert. „Weil die sieben Zwerge ihr geholfen haben. Und der Weihnachtsmann hat die Geister abgelenkt ...“

„... und der böse Wolf hat sie aufgefressen“, fiel Sari ihm ins Wort. „Aber danach hat er sich sofort über Tims Oma hergemacht!“ Damit hatten die beiden die Lacher natürlich auf ihrer Seite. Das brüllende Gelächter der Jungenmeute hallte so laut durch den Wald, dass eine Eule erschrocken von ihrem Baum aufflatterte und mit einem empörten „Huhu“ das Weite suchte.

Tim war natürlich angefressen. „Ja, ja, macht euch nur lustig darüber“, maulte er mit säuerlicher Miene. „Aber euch jungen Hüpfern wird das Lachen schon noch vergehen. Spätestens auf dem Nachhauseweg.“

Ernie runzelte die Stirn. „Warum das denn?“

„Weil der alte Waldweg nach Rock City direkt an der Klosterruine vorbeiführt ...“

„Und?“

„Und weil wir heute rein zufällig wieder Freitag den Dreizehnten haben. Wenn ich an eurer Stelle wäre, würde ich heute Nacht bestimmt nicht durch den Dämmerwald fahren. Ich würde lieber die Landstraße nehmen, auch wenn das ein ganz schöner Umweg ist.“

„Blödsinn!“, widersprach Ernie und winkte gelangweilt ab. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir Angst vor Gespenstern haben!“ Dabei hatte er die Geschichte, die Tim eben erzählt hatte, vor ein paar Tagen schon einmal gehört – von seinem Vater Paul nämlich.

Paul Müller war eigentlich ein eher nüchterner Mann, der nicht über einen einzigen Funken Phantasie verfügte. Trotzdem behauptete er steif und fest, den Geistern vor vielen Jahren ebenfalls begegnet zu sein. Es war mitten in der Nacht und er befand sich gerade auf dem Heimweg von der Waldschenke , einer bekannten Ausflugsgaststätte, als wie aus dem Nichts unheimliche Laute an sein Ohr drangen. Obwohl er die gespenstischen Wesen nicht zu Gesicht bekam, jagten ihm die schaurigen Töne höllische Angst ein, sodass er von Panik übermannt wurde und auf der Stelle die Flucht ergriff. „Und eins ist sicher, Ernie“, hatte er dann noch mit ernster Miene hinzugefügt. „Ich bin in meinem ganzen Leben noch niemals so schnell gerannt wie damals, an diesem Freitag dem Dreizehnten!“

Ernie hatte ihm trotzdem kein Wort geglaubt. Er war vielmehr fest davon überzeugt, dass sein Vater ihn nur auf den Arm nehmen wollte. Auch dass Paul hoch und heilig schwor, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit erzählt zu haben, konnte ihn nicht umstimmen. Da auch der Vater stur auf seiner Geschichte beharrte, entspann sich ein hitziges Wortgefecht, bei dem Ernie ihn einen Lügner nannte. Das kränkte Paul so sehr, dass er seitdem kein Wort mehr mit seinem Sohn gesprochen hatte! Ernie wusste, dass sich das erst ändern würde, wenn er sich bei seinem Vater entschuldigte und ihm gleichzeitig versicherte, seine Geschichte doch zu glauben.

Aber genau das war unmöglich. Dann hätte er doch genauso gut zugeben können, dass Rocky City jede Nacht von Aliens besucht wurde. Denn Gespenster gab es genauso wenig wie Außerirdische.

Höchstens in alten Schauermärchen!

Aber mit einem Mal – hier mitten auf dem Waldweg – war Ernie sich seiner Überzeugung gar nicht mehr so sicher. Die schaurigen Laute, die durch den Nebel verhüllten Forst hallten, waren nämlich nicht zu überhören. Jetzt glaubte er auch noch das dumpfe Schlagen einer Trommel zu vernehmen, die einen wilden Takt angab – den Takt zu einem gespenstischen Reigen?

Ernie hielt unwillkürlich die Luft an. Hatte er seinem Vater tatsächlich Unrecht getan? Und dem Keeper auch? Stimmte die Geschichte vom nächtlichen Tanz der Gespenster vielleicht doch? Für einen Moment war er unschlüssig. Doch dann schüttelte er den Kopf: Bestimmt bildete er sich diese merkwürdigen Geräusche nur ein. Weil das Bier und der Zug am Joint sein Gehirn benebelt hatten.

Eine andere Erklärung gab es doch gar nicht!

Wie zur Bestätigung brachen die unheimlichen Laute in diesem Moment auch ab. Eine geisterhafte Stille senkte sich über den nächtlichen Wald, sodass das Geklapper von Saris Bike wieder deutlich zu hören war. Während Ernie noch nachdenklich in die Nebelschlieren starrte und beinahe andächtig lauschte, schloss sein Kumpel zu ihm auf und hielt ebenfalls an.

Sari Jahmal - er war nicht nur Ernies bester Kumpel beim FC, sondern auch sein Banknachbar im Paracelsus-Gymnasium - musterte ihn verwundert. „Was soll der Quatsch? Warum hältst du hier an, mitten in der Pampa?“

„Weil ... äh ...“, antwortete Ernie gedehnt. „Weil ich dachte ... ich hätte was gehört.“

„Gehört?“ Sari runzelte die Stirn. „Was denn?“

„Irgendwelche ... äh ... Laute.“ Etwas verlegen kratzte Ernie sich hinterm Ohr. „Sie klangen ziemlich merkwürdig und ... irgendwie unheimli-“

„Das glaub ich jetzt einfach nicht!“, fiel Sari ihm ins Wort. „Jetzt hast du dich durch das blöde Gelaber von Ernie ja doch verrückt machen lassen!“

„Quatsch!“, antwortete Ernie rasch. „Ganz bestimmt nicht. Allerdings ... Wie ich schon gesagt habe: Diese Geräusche waren schon irgendwie ... ähm ... merkwürdig.“

Sari antwortete nicht, aber seine Miene sprach Bände: Er glaubte seinem Kumpel ganz offensichtlich nicht ein Wort.

„Außerdem“, fuhr Ernie fort, „ist heute tatsächlich Freitag der Dreizehnte, und bis zur alten Klosterruine kann es auch nicht mehr weit sein.“

„Mann, Mann, Mann, ich fasse es einfach nicht!“ Sari schüttelte sichtlich genervt den Kopf mit den pechschwarzen Haaren. „Du solltest in Zukunft weniger schlucken, wenn du das Zeug nicht verträgst.“

Ernie blickte ihn fragend an. „Du glaubst, dass ich mir das alles nur eingebildet habe?“

„Ja, klar. Was denn sonst?“

„Aber ich hatte doch nur ein Bier und einen Zug!“

„Tja.“ Sari grinste vieldeutig. „Wenn du halt nichts verträgst …“

„Na, ja.“ Erneut kratzte Ernie sich am Kopf, um seine Verlegenheit zu überspielen. „Vielleicht hast du ja Recht.“

„Mit Sicherheit“, antwortete sein Kumpel. „Und jetzt lass uns endlich weiterfahren. Es ist schon nach Mitternacht und höchste Zeit, dass wir ins Bett kommen.“ Damit schwang Sari sich wieder in den Sattel, fuhr mit kräftigen Tritten los und gewann rasch einen gehörigen Vorsprung.

Ernie stieß sich mit dem linken Bein ab und folgte seinem Kumpel eher zögerlich. Als er in die Pedale trat, begann der Dynamo wieder zu surren, und der Scheinwerfer unterhalb des Lenkers schickte seinen Strahlenfinger erneut in die Nebelschwaden, in denen der alte Weg und die mächtigen Bäume an beiden Seiten nur schemenhaft zu erkennen waren. Ernie kniff die Augen zusammen, um die milchige Suppe mit seinen Blicken besser durchdringen zu können. Angestrengt spähte er in die Runde, konnte allerdings nichts Verdächtiges erkennen. Auch die schaurigen Laute, die ihn so erschreckt hatten, waren nicht mehr zu vernehmen. Nicht einmal der leiseste Hauch drang an sein Ohr.

Die nächsten Minuten verliefen ohne Zwischenfall, sodass Ernies Anspannung sich allmählich löste. Er atmete tief durch und sein puckernder Puls wurde langsamer.

Der Fahrweg machte eine scharfe Rechtskurve und führte danach ein geraumes Stück fast schnurstracks geradeaus. Der Nebel lichtete sich etwas, und auch der Wald trat deutlicher hervor. Nur noch vereinzelte Dunstfetzen geisterten um die Baumstämme, hinter denen nun die verfallenen Mauern der alten Klosterruine zum Vorschein kamen. Rund fünfzig Schritte vom Weg entfernt erhob die sich auf einer großen Lichtung. Da bemerkte Ernie mit einem Mal, dass der vor ihm fahrende Sari anhielt und verwundert auf das alte Gemäuer blickte.

Als Ernie den Kopf drehte und seinen Blick ebenfalls darauf richtete, stockte ihm der Atem. Er trat so heftig auf die Bremse, dass er beinahe gestürzt wäre. Dicht neben seinem Freund kam er zum Stehen. Eisige Schauer liefen über seinen Rücken, während er wie erstarrt zur Ruine schaute und Saris Worte kaum verständlich an sein Ohr drangen.

„Oh, nein“, hauchte sein Kumpel fassungslos. „Der Keeper hat doch Recht gehabt!“

Auf der Lichtung loderte ein riesiges Feuer, um das eine Schar unheimlicher Gestalten aufgereiht war – ein knappes Dutzend vielleicht. Alle trugen schwarze bis zum Boden reichende Roben. Ihre Köpfe waren von gleichfarbigen Spitzhauben verhüllt, die lediglich schmale Sehschlitze freiließen.

Ernie war zu keiner Regung mehr fähig und starrte mit klopfendem Herzen auf die unheimliche Szenerie. Plötzlich erklang die Trommel wieder und die vermummten Wesen setzten sich in Bewegung, langsam und wie in Trance. Ein dumpfer Gesang klang unter den Kutten hervor, monoton und beschwörend wie bei einem finsteren Ritual. Er erinnerte Ernie an die Mönchschoräle auf der neuen Lieblings-CD seiner Mutter, die die zu Hause von Morgens bis Abends dudeln ließ.

Ein schauriges Heulen übertönte nun den Gesang und die Trommelschläge. Nur einen Moment später erblickte Ernie die Hunde: zwei riesige Doggen oder Bluthunde – im zuckenden Zwielicht des Feuers war das nicht genau zu erkennen -, die Sari und ihn im Gegensatz zu den gespenstischen Gestalten offensichtlich bereits entdeckt hatten. Die dunklen Bestien, die im flackernden Schein der Flammen wie Höllenhunde aussahen, wendeten ihnen jedenfalls fast gleichzeitig die Köpfe zu. Die spitzen Ohren der Monster spielten unruhig hin und her. Dann brachen sie in wütendes Bellen aus und machten Anstalten, sich auf die Jungen zu stürzen.

Unwillkürlich wich Sari einen Schritt zurück.

Ernie stieß einen unterdrückten Schrei aus. Doch dann erkannte er zu seiner Erleichterung, dass die Bestien angeleint waren: Eine ebenfalls vermummte Gestalt, aus deren Kopf zwei gewundene Hörner zu wachsen schienen, hielt sie an langen Ketten. Die polierten Glieder glänzten im Schein des Feuers. Plötzlich drehte das unheimliche Wesen sich um, sodass die beiden Jungen nun sein Gesicht sehen konnten – es war eine Teufelsfratze mit mächtigen Widderhörnern!

Sari riss seinen Kumpel aus der Erstarrung. „Weg, schnell weg hier!“, schrie er Ernie ins Ohr. „Lass uns abhauen, bevor diese Monster uns schnappen!“ Damit trat er in die Pedale und raste davon.

Nach einer Schrecksekunde tat Ernie es ihm gleich. Mit wild wirbelnden Beinen preschte er wie ein Verrückter über den ausgefahrenen Waldweg dahin. Während er in wilder Fahrt durch die Schlaglöcher und Spurrillen bretterte, wurde er so heftig durchgerüttelt, als säße er im Sattel eines bockenden Mustangs. Ernie blickte weder nach links noch nach rechts, sondern raste nur wie von Sinnen hinter Sari her, dessen roter Rückstrahler wie ein von mächtigen Turbulenzen geschütteltes Leuchtwesen ein gutes Stück vor ihm durch die Dunkelheit geisterte.

Weg, nur weg! , hämmerte es durch Ernies Kopf. Plötzlich meinte er das Gebell der Hunde hinter sich zu hören. Todesangst stieg in ihm auf und ließ ihn die letzten Kräfte mobilisieren. Obwohl seine Oberschenkel schmerzten und die Lungen höllisch brannten, erhöhte er das Tempo. Sein Atem flog und er keuchte laut vor Anstrengung. Salzige Schweißtropfen rannen in seine Augen und brannten wie Feuer. Aber all das bekam Ernie nur am Rande mit. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt einzig und alleine den Monsterhunden, die hinter ihm her waren. Obwohl er sie nicht sehen konnte – ein Blick über die Schulter hätte bei dem Höllentempo schlimme Folgen haben können! -, verrieten ihm das wütende Gebell und das rasende Trappeln ihrer Pfoten, dass die Bestien immer näher kamen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie ihn einholten und ihn ansprangen. Dann war es mit Sicherheit um ihn geschehen!

Ernie meinte bereits die kräftigen Gebisse der Untiere in seinem Nacken zu spüren, als der Wald plötzlich lichter wurde und rund fünfzig Meter vor ihm die erste Straßenlaterne von Rock City aufschimmerte.

War das die Rettung?

Oder würden die schwarzen Bestien sie bis in die Stadt verfolgen?

Ernie krallte seine Hände fester um den Lenker, beugte sich tiefer über das Lenkrad, biss die Zähne zusammen und ließ die Pedale mit letzter Kraft herumwirbeln.

Nur Sekunden später war der Waldweg zu Ende.

Das Sirren der Räder auf dem nassen Asphalt tönte nun in Ernies Ohren und sein Fahrrad wurde schneller, immer schneller. „Ja!“, schrie er vor wilder Freude und übersah darüber ums Haar, dass Sari inzwischen angehalten hatte. Nur eine Notbremsung im allerletzten Augenblick verhinderte den Zusammenprall. „Pass doch auf, verdammt noch mal!“, schrie Ernie seinen Kumpel an und drehte sich gleichzeitig nach den Verfolgern um.

In diesem Moment hallten die dumpfen Töne einer Kirchturmglocke durch die Nacht: Es war ein Uhr - das Ende der Geisterstunde.

Als Ernie zum Weg zurückblickte, der zur alten Klosterruine führte, wollte er seinen Augen nicht trauen: Da waren keine Hunde, die Jagd auf ihn machten! Die schwarzen Bestien waren spurlos verschwunden, als hätte der Erdboden sie verschlungen. Nicht ein lebendes Wesen war im Dunkel des Waldes zu erkennen. Keine Monsterdoggen und auch keine Gestalten in schwarzen Roben und mit spitzen Hauben auf dem Kopf. Und erst recht keine Teufelsfratze! Still und schweigend stand der Wald im fahlen Licht des Mondes, als hüte er ein düsteres Geheimnis, das er lieber niemandem preisgeben wollte.

Beklommen blickte Ernie auf die schwarze Silhouette der Bäume, die wie ein Scherenschnitt im fahlen Licht des Mondes aufragte. „Was meinst du?“, fragte er seinen Kumpel mit belegter Stimme. „Haben wir uns das alles nur eingebildet? Oder waren das tatsächlich die Gespenster, von denen der Keeper erzählt hat?“

Sari antwortete nicht sofort. Im Licht der Laterne wirkte sein Gesicht leichenblass. Er keuchte noch immer. Sein Brustkorb hob und senkte sich, während er mit schmalen Augen zum Waldrand starrte. Plötzlich zuckte er zusammen, als wolle er das unheimliche Erlebnis wie eine lästige Fliege abschütteln, und sah den Freund dann eindringlich an. „Soll ich dir was verraten, Ernie?“, sagte er heiser. „In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so viel Schiss gehabt wie vorhin an der alten Klosterruine.“

„Aber ...“ Ernie schüttelte sich verwundert. „Vor fünf Minuten hast du noch behauptet, es gäbe keine Gespenster!“

„Ich weiß.“ Sari starrte für eine Weile gedankenverloren vor sich hin, bevor er sich wieder dem Freund zuwandte. „Und trotzdem – was soll es denn sonst gewesen sein?“

„Phhh!“ Ernie blies unschlüssig die Luft durch die gespitzten Lippen. „Keine Ahnung. Irgendein Ritual vielleicht? Eine Teufels- oder Geisterbeschwörung oder so was ähnliches?“

„Dann will ich erst recht nichts damit zu tun haben!“ Sari trat dichter an ihn heran und blickte ihn eindringlich an. „Was immer das auch war: Mich bringen keine zehn Pferde mehr in der Dämmerwald! Und schon gar nicht nachts. Ist das klar?“

Bevor Ernie antworten konnte, öffnete der Himmel seine Schleusen und ein mächtiger Wolkenbruch ging über Rock City nieder. Hastig schwangen sich die beiden auf ihre Bikes. Wie die Irren strampelten sie davon und waren trotzdem schon nach wenigen Sekunden von Kopf bis Fuß durchnässt.