Link zu Laura Leander Mysteria Die Drachenbande - Peter & Florian Freund
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Leseprobe:
"Das Phantom um Mitternacht"

 

SO EIN ZIRKUS

Jan, Julia und Marie, die ihre Hunde eben noch über den Übungsparcours im weitläufigen Garten von Opa Ludwig gescheucht hatten, standen am Zaun und blickten fasziniert auf die andere Seite. Auf der verwilderten Wiese gleich hinter dem gemütlichen Backsteinhaus von Jan und Julias Großvater war über Nacht ein Dorf aus dem Boden gewachsen: Ein Dorf aus zahllosen Wohnwagen, Stall- und Versorgungszelten, Käfigwagen und Außengehegen. In der Mitte des bunten Durcheinanders ragte das riesige, von farbenprächtigen Wimpeln geschmückte Zirkuszelt auf. Zirkus Barrasani stand in leuchtenden Buchstaben auf der Fahne, die an der Spitze des höchsten Mastes wehte.

Marie konnte sich an dem Anblick einfach nicht satt sehen. Das blonde Mädchen wusste nämlich schon ganz genau, was es einmal werden wollte: Tierärztin! Und so gab es für die Elfjährige kaum etwas Schöneres auf der Welt als Tiere. Und wann bekam man in Rock City schon einmal derart exotische Exemplare leibhaftig und zum Greifen nah zu sehen?

Neben einem der Wagen rupften zwei Zebras das trockene Gras, drei Lamas und vier Emus stolzierten herum und etwas weiter hinten studierte ein Mann eine Reiternummer auf einem Trampeltier ein. In die fremdartigen Laute der Tiere mischte sich hin und wieder das Gebrüll einer Raubkatze, eines Löwen vermutlich.

Doch die größte Attraktion war ein putziger Schimpanse, der, mit einem Basecap und einem Spiderman-T-Shirt bekleidet, auf einem Wagendach hockte und in aller Seelenruhe eine Banane schälte. Marie wäre am liebsten über Zaun und Absperrung gestiegen, um den geschickten Bewegungen und den witzigen Grimassen des Affen aus nächster Nähe zuzusehen.

„Ist der niedlich“, rief die drei Jahre jüngere Julia. „Wenn er nicht futtern würde, könnte man denken, er wäre ein Kuscheltier.“ Potter, ihr kleiner Jack-Russel-Terrier, sprang am Zaun hoch und kläffte eifersüchtig, aber sein Frauchen beachtete ihn nicht. Genau wie ihr Bruder und Marie war auch das Nesthäkchen der Drachen-Bande ganz in das bunte Treiben auf dem Zirkusgelände versunken.

Mit strahlender Miene sah Marie die Freunde an. „Was haltet ihr davon, wenn wir uns morgen die Premierenvorstellung ansehen?“

„Super-Idee!“, sagte Julia. „Zum Glück sind Ferien. Da erlauben unsere Eltern bestimmt, dass ich ausnahmsweise mal länger aufbleibe.“ Sie drehte sich zu ihrem Bruder um. „Meinst du nicht auch, Jan?“

„Sie hätten bestimmt nichts dagegen.“ Der Junge mit der schwarzen Wuschelmähne lächelte sie freundlich an. „Obwohl du erst acht bist!“

„Dann ist es also abgemacht“, sagte Marie und zog ihr Handy aus der Tasche. „Ich ruf schnell Einstein an. Vielleicht hat er ja auch Lust mitzukommen.“

„Vergiss es.“ Jan schüttelte den Kopf. „Erstens ist die Premiere mit Sicherheit schon ausverkauft und zweitens hat Albert bestimmt keine Lust“. Sein eigenartiger Unterton und seine Geste – er rieb den Daumen am Zeigefinger - machten Marie klar, dass er etwas ganz anderes meinte: Albert Stein, der wegen seines phänomenalen Intelligenzquotienten nur Einstein genannt wurde, hatte schlichtweg kein Geld für die teuren Eintrittskarten.

Einstein war das vierte Mitglied der Drachen-Bande und zugleich Jans bester Freund. Auf dem Nachhauseweg vom Paracelsus-Gymnasium - beide besuchten nicht nur die gleiche Klasse, die 7a, sondern nahmen auch am Computercrashkurs teil, der dort während der Ferien angeboten wurde - hatte Albert ihm anvertraut, dass in seiner Kasse mal wieder totale Ebbe herrschte. Und auf eine Finanzspritze seiner Mutter konnte Einstein leider auch nicht hoffen. Martina Stein war alleinerziehend und kam mit dem schmalen Gehalt, das sie im Kaufhaus am Markt verdiente, eher schlecht als recht über die Runden. Deshalb bekam Albert nur ein bescheidenes Taschengeld, und Extraausgaben waren für ihn einfach nicht drin. „Diesen Monat wirds noch knapper“, hatte Einstein missmutig gebrummt. „Mama muss auch noch Sylvia unter die Arme greifen. Das ist ihre beste Freundin, wie du weißt. Sylvia musste ihre Stelle im Café ja wieder aufgeben.“

„Wieso denn das?“, hatte Jan neugierig gefragt.

„Ach“, hatte Einstein geseufzt. „Die arme Sylvia ist ein einziges Nervenbündel und leidet außerdem unter diversen Angstzuständen, unter anderem an Cleisio- und Anthropophobie.“ Auf Jans befremdeten Blick hin hatte der superkluge Einstein sofort erklärt, was das bedeutete: „Cleisiophobie ist die Angst vor geschlossenen Räumen und Anthropophobie bezeichnet die übersteigerte Angst vor anderen Menschen. Deshalb nennt man das in der Umgangssprache auch ,menschenscheu'!“

„Ah ja, verstehe“, hatte Jan beeindruckt gemurmelt.

„Und weil Sylvia daran leidet, musste sie die Stelle als Bedienung wieder aufgeben. Aber mit den Putzjobs, die sie nebenbei erledigt, verdient sie gerade mal die Miete.“ An einen gemeinsamen Zirkusbesuch der Drachen-Bande war also nicht zu denken. Und Albert würde sich die teuren Tickets bestimmt auch nicht von seinen Freunden schenken lassen. Dazu war er viel zu stolz. Er moserte schließlich schon herum, wenn sie ihn zu einer Cola oder einem Hamburger einluden. Dabei liebte Einstein Hamburger über alles und hatte nicht das geringste Problem damit, ein halbes Dutzend auf einmal zu verputzen.

Von der Straße her ertönte ein wohlbekanntes Bellen – Zweistein, Alberts Bobtail. Tarzan, Jans Border-Collie und Diva, Maries Golden-Retriever-Hündin, stimmten augenblicklich ein und jagten, gefolgt von Potter, zum Gartentor. In dem Lärm hörte man noch das leise ‚Pling' einer Fahrradklingel.

„Was ist denn jetzt los?“, fragte Jan verwundert. „Einstein hat doch gesagt, dass er heute zu Hause bleibt.“

Aber es war tatsächlich der Freund, der ihnen samt Rad und Zweistein auf dem Gartenweg entgegenkam. Seine Wangen leuchteten so rot wie seine Haare – Einstein musste also in höchster Eile zum Drachennest geradelt sein! Dennoch schien er bestens gelaunt. Er ließ das Fahrrad ins Gras fallen und zog einen Stapel Karten aus der Hosentasche. „Was ist denn das hier für ein Zirkus?“, fragte er und grinste wie ein bekiffter Gorilla.

„Kannste nicht lesen? Steht doch oben auf der Fahne: ‚BARTUNDSANI'!“, sagte Julia und stimmte in das fröhliche Gelächter der Freunde ein.

„Tatsächlich? Dann wurde der Zirkus wohl von einem Herrn Bart und einer Frau Sahni gegründet.“ Albert zwinkerte Julia fröhlich zu und drückte ihr die Karten in die Hand. „Überraschung: Hier sind vier Freikarten für die Premiere morgen Abend! Ist das nicht der Hammer?“ Albert strahlte seine Freunde an wie eine Hunderttausend-Watt-Leuchtkugel. „In ganz Rock City ist kein müder Stehplatz mehr zu haben, aber die Drachen-Bande sitzt natürlich in der ersten Reihe.“

 

Lovely Rita hatte das Treffen ihres Esoterik-Zirkels vorzeitig verlassen und war wie von Dämonen gehetzt nach Hause gerannt. Dabei wusste Lovely, dass man vor Dämonen nicht davonlaufen durfte, sondern ihnen vielmehr freundlich zureden musste. Aber das war heute Abend nicht das Thema. Lovely Rita – eigentlich hieß sie ja Rita Huber, aber seit sie vor fast vierzig Jahren mit ihrem damaligen Lover den „Woodstock“-Film im Kino gesehen und eine Mega-Tüte Gras dazu geraucht hatte, nannte sie sich nur noch Lovely Rita - hatte sich so beeilt, weil sie seit einer Woche auf diesen Moment gewartet hatte: Heute lief wieder die Show mit dem phänomenalen Buri Buller – und Buri hatte in der letzten Folge versprochen, dass diesmal jeder Zuschauer mit einem geliebten Toten in Kontakt treten könne!

Schwer atmend ließ Lovely ihren biologisch gefärbten Seidenschal auf den Boden und sich selbst in ihr tibetanisches Sitzkissen fallen. Leider musste sie gleich wieder aufstehen, um einen weiteren, handgefärbten Schal vom Fernseher zu ziehen: Für gewöhnlich verhängte sie das Gerät, damit seine schädlichen Strahlen ihre Konzentration beim Meditieren nicht störten. Überhaupt hatte sie den Fernseher einzig und allein wegen Buri Buller angeschafft. Lovely Rita verabscheute nämlich jegliche bürgerliche Konvention und damit selbstverständlich auch das Fernsehen.

Schon beim ersten Druck auf den Einschaltknopf erschien das Gesicht des weltberühmten Illusionisten auf dem Bildschirm. Lovelys Herz hämmerte in ihrer voluminösen Brust. Sobald sie Buri nur in die halbgeschlossenen Augen sah, spürte sie, wie alles Banale von ihr abfiel und seine wundervolle Aura in ihr zu wirken begann.

Buri Bullers betörende und einschmeichelnde Stimme erfüllte den Raum. Lovely spitzte die Ohren, um nicht ein Wort seiner Anweisungen zu verpassen. „Macht es euch bequem, meine Freunde“, säuselte der Illusionist. „Vergesst den Alltag und all die kleinen und banalen Dinge, die uns von den wirklich wichtigen ablenken. Konzentriert euch ganz auf den lieben Toten, mit dem ihr heute Abend in Kontakt treten wollt.“

Hingerissen plumpste Lovely wieder auf ihr Kissen und lehnte sich zurück. Es war unglaublich, wie Buri es immer wieder auf Anhieb schaffte, sie ganz in seinen Bann zu ziehen. Auf sein Geheiß hin hatte Lovely sich seit einer Woche auf diesen Abend vorbereitet, an dem sie endlich ihren Frieden mit ihrem geliebten Erwin machen wollte. Natürlich hätte sie Buri nicht gebraucht, um mit Erwin in Kontakt zu treten. Lovely war selbst spiritistisch begabt und hatte ihren Mann seit seinem Tod schon häufiger in die gemeinsame Wohnung beschworen. Vor allem an Weihnachten, weil Erwin doch so gerne Gänsebraten mit Semmelknödeln aß. Eines aber war ihr trotz all ihrer Talente als Medium nicht gelungen: Sie hatte es nicht geschafft, Erwin seine geliebte Uhr mit ins Jenseits zu geben! Das nagte an ihr und hinderte sie daran, ihre innere Mitte zu finden.

Die goldene Taschenuhr, natürlich mit Kette, war ein Erbstück von Erwins Urgroßvater. Solange er lebte, hatte Erwin keinen Schritt ohne das kostbare Stück gemacht. Schon Jahre vor seinem Hinscheiden hatte er Lovely inständig gebeten: „Wenn ich vor dir sterbe, dann leg mir bitte Uropas Uhr mit in den Sarg!“ Erwin hatte nämlich ernstlich Angst davor, ihm Jenseits nicht zu wissen, wie spät es ist. Was Lovely höchst albern gefunden hatte – denn so abgedreht war sie nun auch wieder nicht! Aber da Erwin so viel daran lag, hatte sie es ihm einfach versprochen. Damit er endlich Ruhe gab, denn Erwin konnte manchmal ganz schön penetrant sein. Bei seiner Beerdigung hatte sie in ihrer Aufregung dann aber dummerweise vergessen, ihm die Uhr mit in den Sarg zu geben. Und als ihr dieses Versäumnis endlich aufgefallen war, war es viel zu spät, denn über Erwin blühten längst die Gänseblümchen.

Deshalb versuchte Lovely nun alles, um Erwins sehnlichsten Wunsch doch noch zu erfüllen. Sooft sie ihn aus dem Jenseits zu sich rief, legte sie die Uhr an deutlich sichtbarer Stelle nieder. Bisher hatte er sich allerdings strikt geweigert, das gute Stück mitzunehmen. Was natürlich typisch Erwin war. Er spielte die beleidigte Leberwurst - als hätte er noch nie etwas vergessen! Aber heute würde es ihr mit Buri Bullers Hilfe endlich gelingen, den alten Sturkopf zu besänftigen – da war sich Lovely ganz sicher. Denn nicht umsonst stand die Sendung unter dem schönen Motto: „Aussöhnung mit unseren Toten“.

„Ich spüre, dass ihr euch nicht richtig entspannt.“ Buris Stimme schmeichelte aus dem Fernseher. Dieser Mann war einfach ein Genie – immer erwischte er sie, wenn sie sich Erwins wegen innerlich verkrampfte. „So ist es viel besser“, lobte Buri, als Lovely Rita die Schultern lockerte. Ihr war, als stünde er direkt neben ihr im Zimmer. „Und nun schließt die Augen, lauscht der Musik und stellt euch vor, wie der liebe Verstorbene in euer Heim tritt.“

Lovely schloss die Augen. Augenblicklich nahm sie den schwachen Geruch der Salbeibonbons wahr, die Erwin so gerne gelutscht hatte. Kein Zweifel – er war gekommen. Jetzt musste Buri ihr nur noch offenbaren, was sie tun musste, damit Erwin ihr vergab und seine geliebte Uhr wieder an sich nahm.

„Ich sehe, ihr habt eine besondere Nachricht für euren lieben Verstorbenen vorbereitet ... nein, nein, es ist mehr als nur eine Nachricht, es ist ... sogar eine Gabe, ein Geschenk!“

Wie hatte Buri das nur wieder gewusst?

„Mit dieser liebevollen Gabe werdet ihr den Verstorbenen gnädig stimmen und euren Frieden mit ihm machen. Nehmt dieses Geschenk jetzt in die linke Hand.“

Lovely ergriff die Uhr.

„Legt es an euer Herz. Lasst die Liebe zu eurem Verstorbenen in euer Geschenk hineinfließen. Ruft ihn sanft bei seinem Namen oder Kosenamen.“

„Erwin“, flüsterte Lovely und presste die Uhr fest auf die Brust, in der ihr Herz wie mit Donnerschlägen hämmerte. „Erwin, mein geliebtes Schnurzelpurzelchen ...“ Lovely kamen die Tränen.

„Und nun steht langsam auf und begebt euch zum Lieblingsplatz des Verstorbenen. Dort legt ihr die Gabe ab und sprecht einen kurzen, liebevollen Gruß. Dann kehrt ihr wieder vor den Fernseher zurück und konzentriert euch ganz auf mich. Denn nur mit eurer Hilfe kann ich den Verstorbenen davon überzeugen, euer Geschenk anzunehmen.“

Lovelys Beine zitterten, während sie sich von dem Kissen hochrappelte und mit noch immer geschlossenen Augen in Richtung Flur tappte. Sie brauchte nicht zu überlegen, wo sie die Uhr hinlegen musste: Erwins Lieblingsplatz war ein scheußlich spießiger Lehnsessel gewesen, den Lovely nicht ausstehen konnte und deshalb ins Schlafzimmer verbannt hatte. Am liebsten hätte sie das Ding auf den Sperrmüll geworfen. Doch Erwin das anzutun, brachte sie einfach nicht übers Herz. Sie wagte nicht, das Licht einzuschalten, öffnete aber immerhin die Augen, ehe sie die Uhr auf die Sessellehne legte. Das Gold glitzerte im Halbdunkel – Erwin konnte es unmöglich übersehen.

Da – ein Windstoß ließ den grünen Batikvorhang ins Zimmer flattern, obwohl es den ganzen Abend über windstill gewesen war. Das konnte nur eins bedeuten: Erwins Geist war bereits im Raum! „Mein liebes Schnurzelpurzelchen! Bitte verzeih mir und sei mir wieder gut“, wisperte sie ihren Gruß, wie Buri Buller es geraten hatte. „Ich hab das doch nicht mit Absicht gemacht, sondern die Uhr einfach nur vergessen.“ Lovely fühlte, wie der Hauch von Erwins Geist durch sie hindurchhuschte und winkte ihm noch einmal zu. Dann schlich sie andächtig aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Nach der Werbepause – auch die übersinnlichsten Sendungen mussten natürlich mit höchst irdischem Geld finanziert werden! - begrüßte Buri Buller sie mit einem charmanten Lächeln. „Ich hoffe, ihr habt inzwischen alles erledigt“, säuselte er. „Nun macht es euch wieder bequem, um den Rest unserer gemeinsamen Seance zu genießen . Wenn ihr alle meine Anweisungen genau befolgt habt, werdet ihr bald ein Zeichen dafür erhalten, dass der liebe Verstorbene euch vergeben hat.“

Fasziniert verfolgte Lovely am Bildschirm, wie Buri Buller mit seinem Handy die toten Angehörigen von Leuten aus dem Publikum anrief und ganz entspannt mit ihnen plauderte. Doch immer wieder ertappte sie sich dabei, dass ihre Gedanken zu ihrem Erwin und seiner goldenen Uhr abschweiften. Würde er ihr Friedensangebot endlich akzeptieren und das wertvolle Erbstück mit ins Jenseits nehmen?

Hoffentlich!

Ingridchen, ihre Tochter, würde natürlich ganz furchtbar mit ihr schimpfen. Ingridchen hatte einfach kein Gespür für die Schwingungen der Geisterwelt! Sonst hätte sie niemals vorgeschlagen, Erwins Uhr einfach beim Juwelier zu verkaufen und von dem Erlös die Heizung in ihrer Wohnung reparieren zu lassen. Für Lovely wäre so etwas natürlich niemals in Frage gekommen. Sie brauchte keine reparierte Heizung. Schließlich hatte sie mehr als genug Wärme im Herzen!

Als Buri Buller sich eine Stunde später von seinen Fans verabschiedete, blieb Lovely noch eine Weile sitzen. Schließlich konnte sie ihre Neugier nicht länger bezähmen und schlich auf leisen Sohlen zum Schlafzimmer. Behutsam schob sie die Tür auf. Der Batikvorhang wehte wie ein Schleier im Nachtwind. Der Raum lag in geheimnisvollem Dämmerlicht und es duftete schwach nach Salbeibonbons.

War es denn tatsächlich möglich?

Um sich zu vergewissern, schaltete Lovely endlich das Licht ein. Ihre Augen wurden groß wie Bongotrommeln, ihre Kinnlade klappte herunter und sie schlug fassungslos die Hände vors Gesicht – es hatte tatsächlich geklappt!

Erwin hatte ihr vergeben.

Die goldene Uhr seines Urgroßvaters war verschwunden.

Obwohl Einstein fasziniert auf seinen Computermonitor starrte – die Website der Oxford University war unglaublich fesselnd und interessant! -, hörte er, dass im Wohnzimmer der Fernseher ausgeschaltet wurde.

Na endlich!

Wurde auch Zeit, dass die hirnrissige Show dieses Scharlatans vorüber war – Buri Buller oder wie er sich nannte. Der Kerl warb echt mit allzu plumpen Mitteln für seine Sendung: „ Schließen Sie Frieden mit Ihren Toten“ und ähnlicher Quatsch stand in den Anzeigen, mit denen der Sender für seine Show warb. Millionen von Menschen fielen auf diesen Unsinn herein und schalteten wie auf einen geheimen Befehl hin ihre Glotze ein, wenn die leicht durchschaubaren Bauernfängertricks des angeblichen Magiers über die Mattscheibe flimmerten. Sogar seine Mutter, die sonst so vernünftige Martina Stein, ließ sich damit ködern! Albert hatte dafür nur eine Erklärung: Das musste irgendwie in den weiblichen Genen verankert sein. Marie war in dieser Beziehung nämlich ähnlich gestrickt wie seine Mutter. Die sonst so toughe Mitstreiterin der Drachen-Bande hatte ebenfalls eine Ader für allen möglichen übersinnlichen und esoterischen Quatsch und war mit dieser Schiene ziemlich leicht zu beeindrucken. Marie würde bestimmt auch auf die simplen Tricks von Zeno Zeffirelli hereinfallen, der zu den großen Stars des ZIRKUS BARRASANI zählte.

Aber bitte, wenn's ihr Spaß machte!

Albert hatte den Versuch, die Freundin vom Glauben an überirdische Phänomene abzubringen, fast schon aufgegeben. Marie war und blieb eben eine versponnene Romantikerin. Wie die meisten anderen Mädchen auch - wofür seine eigene Mutter das beste Beispiel war. Der Auftritt des Magiers würde Marie deshalb mit Sicherheit gefallen. Dass es ihm selbst genauso ergehen würde, bezweifelte Einstein allerdings ganz erheblich.

Denn vor seinem Abstecher auf die Website der Oxford University hatte Albert kurz das Premierenprogramm des ZIRKUS BARRASANI studiert. Deshalb fürchtete er auch, dass ihn die Aufführung wohl kaum vom Hocker reißen würde. Eine angebliche Attraktion wie Zeno Zeffirelli, der als großartiger Magier und phänomenaler Hellseher angekündigt wurde, würde ihm nur ein müdes Gähnen entlocken. Dieser Zeno war bestimmt ein ebensolcher Scharlatan wie Buri Buller, der in seinen TV-Shows sogar dreist behauptete, in telefonischen Kontakt mit Toten treten zu können.

So ein Unsinn!

Die lahmen Tricks, mit denen Buri die angeblichen „messages“ der Toten erzeugte, waren kinderleicht zu durchschauen und wurden selbst von drittklassigen Provinzauberern beherrscht. Wahrscheinlich würde der Magier im Zirkus mit ähnlichen Mitteln arbeiten - wenig beeindruckend. Das schmälerte Alberts Freude über die Freikarten jedoch nicht im Geringsten. Es war schließlich das erste Mal seit langer Zeit, dass er seine Freunde zu etwas einladen und ihnen eine Riesenfreude bereiten konnte. Dabei hätte er damit bis zum Mittag noch nicht einmal in seinen kühnsten Träumen gerechnet!

Als Einstein vom Ferien-Computerkurs nach Hause gekommen war, traute er seinen Augen kaum: Seine sonst so sparsame Mutter hatte Gäste und bewirtete sie mit Sekt! Um den Couchtisch im Wohnzimmer saßen ihre wie ein Honigkuchenpferd grinsende Freundin Sylvia Neumann und zwei Männer - ein ziemlich dicker und ein ziemlich dünner.

Der Dünne, der Sylvia wie aus dem Gesicht geschnitten war, lächelte ihn breit an. „Einen tollen Hund hast du da“, sagte er. „Ein Bobtail, richtig? Auf gut Deutsch bedeutet das schlicht und ergreifend Stummelschwanz.“ Er lachte los, als hätte er den Superwitz des Jahres gerissen.

„Deine Gags waren auch schon mal besser, Johnny.“ Der Dicke klopfte dem Witzbold auf die Schulter, erhob sich und reichte Albert die Hand.

Einstein ließ sich zwar grundsätzlich nicht von äußeren Eindrücken leiten, aber dieser Typ war ihm auf Anhieb sympathisch. Es war ihm nämlich deutlich anzusehen, dass er einen ähnlich großen Appetit besaß wie er selbst. Und mit seinem fast kugelrunden Gesicht hätte er in „Peterchens Mondfahrt“ einen rundweg überzeugenden Mond spielen können.

„Ich bin Beppo“, sagte das Mondgesicht und grinste. „Sorry, dass wir euch so geballt die Bude einrennen. Aber Johnny wollte unbedingt, dass ich seine Schwester kennenlerne, und die hat uns prompt zu deiner Mutter geschleppt.“ Er schielte auf die Uhr an der Wand. „Sorry, aber wir müssen schon wieder los.“

„Jetzt schon?“ Sylvia war sichtlich enttäuscht. „Könnt ihr nicht noch ein bisschen bleiben? Johnny und ich haben uns doch seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.“

„Keine Sorge, Schwesterherz“, sagte der dünne Kerl mit den noch dünneren Witzen. „Wir gastieren immerhin ein paar Tage hier in Steiningen. Da können wir uns noch oft genug sehen. Aber Beppo hat recht: Wir müssen dringend zur Probe. Oder glaubst du, wir wollen uns morgen bei der Eröffnungsvorstellung vor vollem Haus blamieren?“

„Eröffnungsvorstellung?“, fragte Albert, der keinen blassen Schimmer hatte, was Johnny meinte.

„Aber ja doch, aber ja doch.“ Der mondgesichtige Beppo lüftete einen nicht vorhandenen Hut und verbeugte sich. „Mein Freund Johnny und ich arbeiten beim Zirkus Barrasani. I ch als Clown und Johnny als Trompeter im Orches-“

„Deshalb habe ich Johnny ja so lange nicht gesehen“, fiel Sylvia ihm ins Wort. „Er zieht ständig mit seinem Zirkus in der Weltgeschichte herum. Aber jetzt haben wir Gott sei Dank ein paar Tage für uns. Und es gibt noch mehr Grund zum Feiern: Ich habe heute nämlich eine Stelle als Haushaltshilfe bei Bürgermeister Obermeier gekriegt – ist das nicht toll?“

„Supertoll!“ antwortete Albert. „Ich gratuliere.“ Er fand es dennoch bedeutend toller, dass Sylvias Bruder beim Zirkus arbeitete. Bestimmt würden seine Freunde von der Drachen-Bande sonst was dafür geben, die Premiere zu besuchen.

Als habe Johnny Neumann seine Gedanken gelesen, trat er neben ihn, klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter und blickte seinen Begleiter breit grinsend an. „Sag mal, Beppo, haben wir nicht noch etwas für den jungen Mann?“

„Selbstverständlich, selbstverständlich!“ Theatralisch zog Beppo die Brieftasche aus seinem Jackett, förderte einen dünnen Packen Karten daraus zutage und blätterte ihn vor Alberts Augen auf. „Als Dankeschön für den freundlichen Empfang – vier Freitickets für die Premiere. Du hast doch sicher ein paar Freunde, die auch unsere weltbekannten Attraktionen kennenlernen möchten: Marco Martini, den berühmten Hochseilartisten, Jason Drake und seine fauchenden Kätzchen - und natürlich auch den zauberhaften Zeno Zeffirelli?“

Einstein konnte sein Glück kaum fassen. „Und ob ich die habe!“, war es aus ihm herausgeplatzt, um dann nach einem neuerlich Blick auf die Brieftasche Beppo vorwurfsvoll anzusehen. „Es ist ziemlich leichtsinnig von Ihnen, so viel Bargeld herumzutragen!“

„Meine Güte, hast du scharfe Augen!“, hatte Beppo erwidert. „Aber Direktor Barrasani hält es noch wie in alten Zeiten und zahlt die Gage immer bar. Und ich bin einfach zu faul, das Geld auf mein Bankkonto einzuzahlen!“

„Aber Sie können es doch nicht ständig mit sich herumtragen. Bei Ihren Auftritten zum Beispiel! Was machen Sie denn, wenn es währenddessen geklaut wird!“

„Das wird es mit Sicherheit nicht, mein Junge!“, erwiderte das Mondgesicht und kniff ihm in die Wange. „Ich habe ein todsicheres Versteck, an das garantiert niemand herankommt!“

„Das glauben Sie“, hatte Albert gebrummt, als ihm noch etwas aufgefallen war und er auf die beiden Buchstaben auf der Brieftasche gedeutet hatte. „Warum sind da zwei M drauf zu sehen? Ich dachte Sie heißen Beppo?“

„Na, na, na! Du bist ja ein ganz Schlauer! Trotzdem brauchst du nicht alles zu wissen ...“

„Ich geh ins Bett, Albert“, riss die Stimme seiner Mutter ihn plötzlich aus den Gedanken. Martina stand in der offenen Tür seines Zimmers und lächelte ihn müde an. „Und du solltest dich auch langsam schlafen legen.“

„Ja, ja, Mama, mach ich“, antwortete er schnell. „Schlaf gut!“

„Du auch.“ Martina gähnte. „Gute Nacht, Albert, und träum was Schönes.“

„Danke, das wünsch ich dir auch!“, erwiderte Einstein, verkniff es sich aber, den Gedanken auszusprechen, der ihm gerade durch den Kopf ging: Träum von Buri Buller und seinen sprechenden Toten! Solche Phantome gab es nämlich nur im Traum, wenn überhaupt.